Die 'Hirsauer Gewohnheiten'

Als „Consuetudines Hirsaugienses“ werden die Regeln bezeichnet, die Abt Wilhelm im 11. Jahrhundert für das Kloster Hirsau erlassen hat und die auch in vielen anderen Klöstern eingeführt wurden.

Als Papst Urban II im Jahre 1098 Cluny als das „Licht der Welt“ bezeichnete, wählte er diese Metapher, um die Strahlkraft der burgundischen Reform-Abtei im Hochmittelalter zu beschreiben. Diese „Strahlen“ hatten bereits 1077 auch das Schwarzwaldkloster Hirsau erreicht, das seine Hirsauer Reform mit zahlreichen Regeln und Weisungen den cluniazensischen Gewohnheiten entlehnte.

Erfahren Sie hier mehr über die „Consuetudines Hirsaugienses“.

Die Hirsauer Gewohnheiten (Consuetudines Hirsaugienses)

Nähert man sich auf der Zeitschiene dem Kloster Hirsau im Hochmittelalter, so wird man unweigerlich der „Hirsauer Reform“ begegnen,einer Reform, die – im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus – auf die Neugestaltung des Mönchs- und Klosterwesens einen maßgeblichen Einfluss ausübte. Nahezu ein halbes Jahrhundert lang, etwa von 1070 bis nach 1120, erfasste Hirsau als monastisches Reformzentrum in seiner Ausstrahlung das ganze Reich. Dabei brachte es sich im Investiturstreit auch aktiv als Vertreter päpstlicher Interessen in die kirchlichen und politischen Auseinandersetzungen jener Zeit ein.

Unverzichtbar für die Hirsauer Reformbewegung sollte das Vorbild von Cluny als ein „lebendiger und unerschöpflicher Quell“ werden, so im Prolog der „Constitutiones Hirsaugienses“. Nach ihrer Gründung im Jahre 910 wandte sich die burgundische Benediktiner-Abtei Cluny in Reformwillen und -bewegung gegen die Verweltlichung der Kirche. Die Absage jeglicher Einmischung weltlicher und bischöflicher Gewalt in die internen Angelegenheiten des Klosters, freie Abtswahl, Befreiung von Abgaben und Immunität trugen als Elemente der Reform zur Blüte Clunys bei. In ihrer Hochphase gehörten zur Abtei Cluny annähernd 1.200 Klöster mit etwa 20.000 Mönchen.
Das Hirsauer Aurelius-Kloster übernahm unter Abt Wilhelm in den Jahren 1079/80 umfangreiche Teile der Gewohnheiten von Cluny und begründete somit, nach Cluny, eine zweite Reformbewegung, die mit zahlreichen Klöstern Hirsauer Ordnung vor allem Mitteleuropa erfasste. Weitgehende Übereinstimmungen von „Consuetudines“, „Codex Hirsaugiensis“ und „Traditiones Hirsaugienses“ mit den von Trithemius überlieferten Ereignissen aus dem Schwarzwaldkloster des 11. Jahrhunderts lassen kaum Zweifel am Wahrheitsgehalt der Quellen zu. Neben Nennungen von Cluny im um 1500 zusammengestellten Hirsauer Codex und in der „Vita Wilhelmi Abbatis Hirsaugiensis“ aus der Zeit um 1100 sind es schließlich vor allem die „Consuetudines (Constitutiones) Hirsaugienses“, die sich für uns als Garant für die 900 Jahre alten Traditionsstränge erweisen.

Betender Mönch aus dem Figurenfries des Südturms der Peter-und-Pauls-Kirche

Abt Wilhelms herausragende Qualitäten beschränkten sich nicht auf den spirituellen Bereich, er war auch ein Pragmatiker. Für das Zusammenleben der Konventualen führte er detaillierte Regeln ein – sozusagen die Ausführungsbestimmungen auf der Grundlage der allgemeinverbindlichen Benediktsregel. Etwa um 1080 niedergeschrieben, basiert dieser Leitfaden für die Ausrichtung des klösterlichen Lebens in großen Teilen auf den in Cluny praktizierten Grundsätzen. Auf Anraten von Abt Hugo von Cluny passte Wilhelm von Hirsau die von seinem Regensburger Jugendfreund Ulrich von Cluny bzw. von Zell fixierten cluniazensischen „Consuetudines“ den örtlichen Gegebenheiten an. Selbstbewusst lässt Wilhelm im Prolog niederlegen: „Ego, frater Wilhelmus….“ und später „Si quid mutandum, mutaremus: si quid addendum, adderemus“ (Ich, Bruder Wilhelm….Was zu ändern sei, mögen wir ändern: Was hinzuzufügen sei, mögen wir hinzufügen). Dazwischen ist recht klug ein kleines Zwiegespräch zwischen ihm und Abt Hugo platziert, bevor er die dreimalige Entsendung Hirsauer Mönche nach Cluny erwähnt. Obwohl sich also der Hirsauer Ordo an den Clunys anlehnt, sind in Auswahl, Veränderung und Setzung die „Consuetudines (Constitutiones) Hirsaugienses“ allein Wilhelms Werk.

 Im Hirsauer Formular von 1075 gelang es Abt Wilhelm,die freie Wahl der Äbte durchzusetzen. Die Übergabe des Abtstabes sollte allein durch den Konvent erfolgen. Die Weihe konnte aufgrund der offenen Formulierung im Hirsauer Formular praktisch von jedem berufenen Bischof durchgeführt werden. Dies stand im Gegensatz zum Kirchenrecht, das dieses Vorrecht dem Diözesanbischof zusicherte. Grundsätzlich erlangte Wilhelm auch die freie Wahl des Vogtes, musste aber anerkennen, dass dieser stets aus der Familie der Stifter kommen musste.

Das Hirsauer Formular, ausgestellt 1075 durch König Heinrich IV.
Zeichensprache im Kloster. Hier: "Silentium"
Der gregorianische Gesang ist das gesungene Gebet der Mönche

Streng geregelt waren durch die Hirsauer Gewohnheiten der Tagesablauf, die Stundengebete, die Liturgie, aber auch das Zusammenleben in der Klostergemeinschaft. Hier nur eine Auswahl: da im Kloster das Schweigegebot galt, entwickelte Wilhelm eine Zeichensprache, mit der sich die Mönche verständigten. Es gab 359 festgelegte Handzeichen, die ganz konkrete Dinge des Alltags bezeichneten. Aneinandergereiht ergaben sie einfache Satzstrukturen und Sinnzusammenhänge. In der Regel gab es zwei Mahlzeiten am Tag, bestehend aus bescheidenen Portionen von Gemüse und Brot. Geflügel und Fisch waren die Ausnahme. Beim Aufstehen in der Morgendämmerung, aber auch zum nächtlichen Chorgebet, sind die Mönche aufgefordert, sich die Hände und das Gesicht zu waschen. Für die verschiedenen Gruppen der Mönche gibt es hierfür vier Handtücher, eines davon für die Kranken. Baden ohne Genehmigung ist nur zwei Mal im Jahr erlaubt, an Weihnachten und an Ostern. Ansonsten kann der Mönch um Erlaubnis fragen, falls das Baden seiner Gesundheit dient. Für den Weg zur Arbeit legt die Regel fest, welche Psalmen und liturgische Rufe in der Prozession dorthin zu singen sind. Auch für die Zeit während der Arbeit gibt es eine Psalmenordnung. Wenn Hostien für die Eucharistie zubereitet werden, muss mit höchster Ehrerbietung und Sorgfalt gehandelt werden, von der Auswahl des Getreides bis hin zur Bearbeitung in der Mühle. Die Mönche sind außerdem angehalten, regelmäßig zur Beichte zu gehen. Die Consuetudines legen fest, wann, vor wem und in welcher Weise die Mönche die Beichte ablegen sollen und auch welche Strafen ihnen auferlegt werden sollen. Je nach Vergehen reichen sie von einigen Gebeten oder Psalmen bis hin zu Geißelung. Vergehen der Mönche, die außerhalb des Klosters begangen wurden, sollen auch dort geahndet werden, damit die Sühne des Mönchs von den Betroffenen des Vergehens wahrgenommen wird. Stirbt der Abt des Klosters, ist vorgeschrieben, dass der letzten Ölung ein Akt des gegenseitigen Schuldeingeständnisses gegenüber Gott und den Mitbrüdern mit der Bitte um Vergebung durch den Abt einerseits und dem Prior und dem Konvent andererseits vorangehen soll.
Im Unterschied zur Gemeinschaft von Cluny fehlte die Zentralisierung der Bewegung. Diese war lediglich durch die gemeinsamen Konstitutionen, durch Gebets-Verbrüderungen und Totengedenken verbunden. Die von Hirsau abhängigen Abteien waren also nicht im selben Maße rechtlich wie wirtschaftlich an Hirsau gebunden wie die cluniazensischen Klöster an Cluny.

Oblation – aus dem Decretum Gratiani, Universitätsbibliothek Leipzig

Das Oblatenwesen, das heißt, die Annahme von Kindern zur Hinführung auf das Ordensgelübde, wie es in Cluny noch üblich war und wie es Wilhelm persönlich im Regensburger Kloster St. Emmeram erlebt hatte, wurde abgelehnt. Stattdessen wurde die Aufnahme von Laienbrüdern, sogenannten „Conversi“, charakteristisch. Dadurch erreichte Wilhelm eine Offenheit im Konvent für alle gesellschaftlichen Schichten, während viele andere klösterliche Bewegungen daran festhielten, dass nur gebildete Priester, die in der Regel aus der Oberschichtkamen, in die Mönchsgemeinschaft aufgenommen wurden.

Fragment eines Würfelkapitells aus der Peter-und-Pauls-Kirche mit der typischen Hirsauer Nase

Äußeres Zeichen für den Einfluss des Reformklosters im Schwarzwald ist der strenge Hirsauer Formenschatz, der sich auf viele kirchliche Bauten jener Zeit auswirkte. Typisch sind Kirchen in Form einer Säulenbasilika mit flacher Decke und ohne Unterkirche oder Krypta. Weitere Charakteristika sind die Unterteilung des Chores in einen Bereich für Mönche und für Laienbrüder, zahlreiche Altäre im Kirchenbau -jeder Priestermönch musste täglich eine Messe feiern -vergrößerte Seitenschiffe und die Säulenform mit ihren typischen Kapitellen mit der Hirsauer Nase. Die Westfassade setzte mit ihren zwei Türmen ein mächtiges Zeichen nach außen.

Consuetudines für das Kloster Ochsenhausen

Durch die Übertragung dieser Gewohnheiten auf zahlreiche Klöster in Mitteleuropa, die auf diese Weise zu Hirsauer Reformklöstern wurden, mutierte die schriftliche Fixierung der örtlichen Hirsauer Gewohnheiten zum Programm einer Reformbewegung. Der Brauchtext wurde zum Reformtext. In insgesamt 12 Exemplaren bzw. 20 Fragmenten sind diese Reformprogramme – zunächst aus der Feder Abt Wilhelms stammend, dann unzählige Male abgeschrieben und weitergereicht – noch heute vorhanden.

Die Abbildung zeigt die erste Seite des Exemplars aus dem Kloster Ochsenhausen, das später ins böhmische Königswart gelangte. Zusammen mit den cluniazensischen „Consuetudines“ veränderten und prägten sie in einem Netzwerk nicht unwesentliche Elemente in Kirche und Staat wie zum Beispiel die Trennung von Kirche und Staat, den Arbeitsethos oder das Wirken von Laienbrüdern in Klöstern. So leistete das cluniazensisch-hirsauische Netzwerk bereits damals einen Beitrag zur Entstehung einer europäischen Kultur und eines gesamteuropäischen Bewusstseins.

Kontakt

Freunde Kloster Hirsau e.V. Geschäftsstelle
Ortsverwaltung Hirsau/Rathaus
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75365 Calw-Hirsau
Telefon: 07051-9675-0

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